17.09.2021
Aus aktuellem Anlass ("Schulterschluss zwischen Geist und Macht", Gastbeitrag von Olaf Scholz und Carsten Brosda, DIE ZEIT vom 09.09.2021) haben wir einen Leserbrief der etwas anderen Art verfasst, nämlich in Form einer literarischen Replik. Ist wohl eher ein Statement geworden:
Wer in unserem Land die Führung (…) übernehmen will, steht vor der Aufgabe, das Vertrauen zwischen Kunst und Politik wiederherzustellen und einen gemeinsamen Raum des Dialogs zu schaffen. (DIE ZEIT, Sept. 2021)
Kurz zuvor, gegen halb acht, hatten die Herren der Verwaltung geklopft, zuerst leise, dann, nachdem ich nicht sofort geöffnet hatte, mit sorgfältiger Dringlichkeit.
»Was haben Sie sich bei dieser Aktion gedacht«, fragte der eine.
Wir standen vor meiner Wohnungstür, mitten im Flur.
»Sie wissen ja, warum wir hier sind«, sagte der andere in beipflichtendem Ton.
Ich schwieg. (…)
»Wir halten Unregelmäßigkeiten jedweder Art für unnötig. Sie wissen, wie viele von Ihnen hier für eine Wohnung Schlange stehen.« (DIE FACETTE, Hamburg 2020)
(…) Die kulturellen Fragen nach Sinn und Zusammenhang unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens drängten schon vor der Pandemie mit Macht in die öffentliche Arena. Wie gelingt es uns, ohne Angst verschieden zu sein?
Ich lief durch die Fußgängerzone zur Arbeit, nach Altona, an der Baustelle vorbei, die inzwischen von der Szene aufgegeben worden war – ein Zeichen des Widerstands zeugte noch davon, ein verstummtes Plakat aus dem letzten Jahr, auf einer der Spanplatten am Zaun, der den Blick auf den offenen Krater versperrte: »Du wohnst hier nicht, IKEA«.
Wie schaffen wir Bedingungen, unter denen wir (…) kulturelle Vielfalt als den Reichtum empfinden, der sie zweifellos ist?
»Der Kunde verpflichtet sich, jegliche Möglichkeiten zu nutzen, um die Hilfebedürftigkeitzu beenden. Er bemüht sich vorrangig und eigeninitiativ um die Beendigung der Erwerbslosigkeit und wirkt aktiv und unverzüglich an allen Maßnahmen mit, die geeignet sind, dieses Ziel zu unterstützen. (…)
Der Kunde stimmt der vermittlungsrelevanten Datenerhebung bezüglich der Wohnsituation, der familiären Situation, der räumlichen Mobilität, der finanziellen Situation und der Leistungsfähigkeit zu. Er erklärt sich mit der Dokumentation dieser Angaben für vermittlungsrelevante Zwecke bis auf Widerruf einverstanden.«
Und wie können künstlerische Inspiration und Irritation dabei helfen, ohne dafür in den Dienst genommen zu werden?
»Wir müssen uns mal entscheiden, ob wir bei der Strategie bleiben, uns monatlich von den Schreiben und Aktionen der beiden Herren terrorisieren zu lassen, oder«, sie kramte in ihrer Tasche, »ob wir uns endlich, fundamental, damit beschäftigen wollen, wofür uns diese Institution und diese Stadt eigentlich benutzt. Ich habe die Schnauze voll davon, wie ein Zootier gehalten zu werden.«
Politik hat sich zu oft zu sehr auf das Funktionieren der Systeme konzentriert, die Kultur hat sich im Gegenzug manches Mal auf die reine Ästhetik reduziert.
»Hier in Good Old Hanse wird es dann zu so einer Low-Level-abstrakte-Kunst, das ist eben hier die Tradition, wohingegen sich weiter östlich dasselbe im sogenannten Realismus totläuft – Öl, Öl, Öl und Figürliches, Figürliches, bis der Arzt kommt – im Westen das Telling, das Showing im Osten.«
Die Arbeiterbewegung war von Anfang an auch eine Kulturbewegung, die sich nicht im Kampf um bessere Arbeitsbedingungen erschöpfte, sondern die ganze Gesellschaft mit im Blick hatte – und damit eben auch ihre Kultur.
Am Nachbartisch insistierte ein Trinker, der etwas aufgeschnappt hatte: »Ich bin vor sehr schwere Herausforderungen gestellt. Ich werde gezwungen, mich neu zu erfinden. Das ist keine Freiheit. Das ist Sklaverei. Ich werde gezwungen, frei zu sein. Ich halte das nicht aus. Ich halte das einfach nicht mehr aus.«
Dazu gehört eine Freiheit, die eben nicht nur strategisch oder zweckgebunden ist, sondern nach sinnhaftem Handeln strebt.
Oder war es das unerwartet strategische Denken, das N. sehr lebendig an den Tag legte und das, so wie die Dinge sich mir am Vorabend meines 36. Geburtstags darstellten, einem Teil meiner eigenen Generation (…) ganz und gar abging? Die zwar nicht lost, aber doch stimmlos war und, wenn überhaupt, als die unsichtbare in die Geschichte eingehen würde?
Der offene Dialog zwischen Politik und Kunst ist eine zentrale Voraussetzung dafür, dass politisches und gesellschaftliches Gestalten gelingen kann.
»Ich habe immer einen Freiraum für Leute wie Sie gehabt. Das muss möglich sein in einer Gesellschaft wie unserer. Aber: Es muss auch jemanden geben, der in die Sozialkassen einzahlt. Sonst läuft gar nichts mehr. Mit einem Mindestmaß muss sich jeder beteiligen. Wenn alle nur ihre Rechnungen stellen, wo kommen wir dahin? Ich selbst habe mich vom Tankwart übers Studium der Sozialpädagogik bis hierher gearbeitet. Ich kann mich nicht erinnern, weniger als sechs Tage die Woche geackert zu haben. Es muss aber auch Leute wie Sie geben, die sich um den Zustand unserer Gesellschaft kümmern. (…) Auch das ist Arbeit. Anfangs habe ich nicht verstanden, warum heimatlose Akademiker wie Sie bei mir Arbeit suchten, aber über die Jahre habe ich festgestellt, dass ich diesen Leuten ein Öhr biete. (…) Ich wünsche Ihnen alles Gute.«
Kunst ist nicht bloß systemrelevant, sondern im kulturellen Raum liegen die Fundamente, auf denen unser Zusammenleben gegründet ist.
Ich wusste, wie die Erzählung weitergehen würde, wie sie enden würde. (…) Immerhin, ich würde danach wissen, dass es nicht die folgende Generation war, die mich abstieß, der ich nichts zutraute außer ein ahnungsloses, simuliertes Leben in Zitaten, sondern dass ich es selbst war, die den Punkt erreicht hatte, vor dem ich mich angefangen hatte zu fürchten – ich war im Begriff, die Schwelle zur Teilnahmslosigkeit, der Welt und mir selbst gegenüber, also endgültig zu überschreiten.
Wir brauchen einen Schulterschluss zwischen Macht und Geist.
Ich stellte das Radio an. Sie brachten »Die lange Nacht des politischen Kabaretts«. Der Sprecher referierte über den Zusammenhang von »klaren Feindbildern« und ihrem Mehrwert für die Gattung beziehungsweise darüber, ob ihre Zunahme in »Zeiten der Globalisierung« beziehungsweise die »Orientierungslosigkeit«, in der sich das Individuum seither befinde, letztendlich das Kabarett retten werde.
Wir grunzten, weil wir wussten, was noch alles gesagt werden würde. Wir wussten ja alles.
Die Freiheit der Kunst ist zu schützen und zugleich ihre Arbeitsgrundlagen zu sichern.
Zwar lebte ich in Verhältnissen, für die es seit einigen Jahren ein neues Wort gab, prekär, und war an einem Punkt, an dem mir zwangsläufig, wollte ich mich nicht selbst betrügen, dämmern musste, dass von Selbstverwirklichung alter Schule, das heißt von einem authentischen Leben in alternativen Strukturen, nur noch sorgfältige Angespanntheit übrig war, vielmehr noch: das, was lange Jahre als regelrechtes Lebensziel getaugt hatte, eine Existenz aufzubauen, der ein unausgesprochener, zäher Glaube an die eigene Wirksamkeit zugrunde lag, hatte begonnen, sich gegen das, was ich – mittlerweile störrisch – als die Peergroup betrachtete, zu richten, also auch gegen mich.
Mit der Aufnahme der Kultur als Staatsziel wollen wir hier den entscheidenden Hinweis geben.
Ich blickte auf die Uhr ohne Zeiger, die über dem Fenster zum Garten hing, das Überbleibsel einer gut gemeinten, aber belanglosen Hausausstellung aus dem letzten oder vorletzten Jahr, mit einem Titel, den ich vergessen hatte, den wir damals aber alle unglaublich gut gefunden hatten. Während ich auf das Zifferblatt schaute, versuchte ich mich an den genauen Wortlaut zu erinnern. Ich bildete mir ein, die Uhr ticken zu hören (...).
Wirksame Kulturpolitik besteht (…) in der Gestaltung der Bedingungen, die das Leben und Arbeiten von Künstlerinnen und Kreativen prägen.
»Müsse nun sie an sich arbeiten oder die Gesellschaft?«
(aus: DIE ZEIT: »Für den Schulterschluss von Geist und Macht«, Gastbeitrag von Olaf Scholz und Carsten Brosda, Hamburg, 09.09.2021
»DIE FACETTE« (Roman), Donata Rigg, Textem Verlag, Hamburg 2020: S. 10, 152, 76/77, 25,179/80, 14, 108, 19, 224/25, 99, 203, 155, 208)
24.2.2021
Aus der Kategorie Leserbriefe:
Sehr geehrte Redaktion der Berliner Zeitung,
mit Interesse haben wir die Replik von Frau Rennefanz (20.2.2021) auf das Zeit-Interview der Autorin Anke Stelling verfolgt.
Wir kommen nicht umhin, folgenden Schluss zu ziehen, und möchten Ihnen das, vor allem aufgrund der unserer Ansicht nach immer wieder ins Leere laufenden politischen Debatten mitteilen:
Für uns wären die Aussagen von Frau Stelling eine äußerst spannende Grundlage gewesen, um an ihre Thesen des Klassismus anzuknüpfen. Stattdessen müssen wir bedauerlicherweise feststellen, dass es anscheinend auch von Ihrer Redaktion aus keinen Willen gibt, Diskurse an dieser Stelle fortzuführen oder zu vertiefen.
Den Text von Frau Rennefanz hätten wir gerne als eine bspw. Dialogaufnahme mit dem Interview von Frau Stelling gelesen. Vor allem hätte uns dabei das Thema der Repräsentation Ost sehr interessiert. Leider mussten wir aber erkennen, dass die Kolumne funktioniert wie der seit längerem nicht mehr stattfindende Diskurs im öffentlichen Raum, d. h. durch
- bewusste Fehldeutung („Der Osten kommt in dem Buch vor, sieht aber aus wie Hamburg-Eimsbüttel“),
- unzulässige Verkürzung („Buchhändler sind für Stelling Prekariat“),
- verengende Argumentation („In dem von vielen Linken gefeierten Interview zeichnet sie die neuen Klassenkampflinien im Prenzlauer Berg nach, die offenbar zwischen westdeutschen Buchhändler- und westdeutschen Anwaltskindern verlaufen“),
- oder anmaßende Sprechhaltung („Aber der Anke-Resi-Stelling-Blick auf Ost-Berlin ist nicht so ungewöhnlich“).
Das trägt weder zu einer so nötigen Differenzierung gesellschaftlicher Probleme bei noch gewinnt man dadurch eine wie auch immer geartete Erkenntnis.
So stirbt die öffentliche Meinungsbildung und wichtige Auseinandersetzungen werden in der Öffentlichkeit unterbrochen bzw. zunichtegemacht, bevor sie an Fahrt aufnehmen können.
Das bedauern wir sehr.
Mit freundlichen Grüßen,
werspricht
Text & Profil GbR
3.2.2021
Aus der Kategorie Eigene laufende Schreibprojekte (Gemeinsam-einen-Roman-Schreiben):
Jemand musste das Go bereits gegeben haben. Benedikt ahnte es, als er, von der Promenade kommend, das Ding in der Mitte des Grundstücks stehen sah, ein riesiger Bagger, zwischen Wohnhaus und Fischladen. Aus dem am Boden liegenden Arm und der Schaufel, die wie eine offene, eiserne Faust auf dem Kies lag, sprudelten zerbrochene Ziegel. Er drehte am Knauf des Holzgatters und trat ein. Sein Blick fiel auf das Wohnhaus, das unberührt und verschlossen schien. Linkerhand lag die Fischküche. Wie eh und je begrüßte den Gast ein Holzpfeil an der Fassade der vorgelagerten Werkstatt, in Form eines Fisches, auf dem „Laden“ stand, allein die Tür standsperrangelweit offen. Als er über die Schwelle trat, sah er nur noch die Spuren der ehemaligen Kühltheke auf den Fußbodenkacheln und, an der Wand, einen hellen Fleck, den der ausgestopfte 30-Pfund-Zander von 1983, ein Jahrhundertfang, hinterlassen hatte. Er ging nach hinten, in den Verarbeitungsraum. Die gusseiserne Arbeitsfläche war entfernt worden, ebenso die beiden Kühltruhen und die Schupp- und Filettiermesser. Selbst die Magnetschiene, an der die Messergehangen hatten, waren mitgenommen worden, übrig davon nur noch drei schwarze Löcher in der Wand, aus der ein Weberknecht die stelzigen Beine hängen ließ. Ein Schritt weiter, in der Räucherkammer, sah er die Schürze des Großvaters am Haken hängen, davor seine Gummistiefel, als sei nichts gewesen, als würde er jeden Moment die Tür öffnen, auf den Ofen zugehen, die Hand auf ihn legen, um die Temperatur zu überprüfen, sich vor die Luke hocken, die Handschuhe aus dem Holzkorb greifen, die Luke öffnen und Holz nachlegen.
Unvorstellbar, einfach unvorstellbar. Es war alles vorbei.
Wie überall in der Provinz war auch der Bahnhof von Herzach Anfang der 2000er Jahre, als die Landstriche rund um die großen Städte zu sogenannten Metropolregionen verändert wurden, umgestaltet worden. Der Verkaufsschalter war nur mehr von zwöl fbis 15 Uhr besetzt, außerhalb der Saison ganz geschlossen, dafür gab es nun zwei Ticketautomaten am Bahnsteig. Die Fahrradständer waren großzügig aufgestockt worden, wozu im Dorf die Meinungen stark variierten, zumal auch die Kneipe mit ihren nikotinschweren Vorhängen, das letzte Mal vermutlich in den 90er Jahren gewaschen, kurz darauf, nach dem Ableben des Wirts geschlossen geblieben war. Von ihr waren nur noch ein Stehtisch in Form eines Holzfasses, zwei um die Wette gurrende Tauben und ein vollgepisster Eingangsbereich übrig. So eröffnete sich dem Besucher, kam er mit der Bahn im Fremdenverkehrsort Herzach an, ein für den über die Jahre angehäuften Wohlstand des Ortes unverhältnismäßig unwirtliches Bild. Erst im letzten Jahr hatte der Gemeinderat die Umnutzung der ehemaligen Wirtschaft als Club abgelehnt, vordergründig, um sich nächtliche Scherereien zu ersparen, in Wahrheit aber, um den Konsum anderer Rauschmittel als Alkohol und Zigaretten im Privaten zu belassen, sei es in einem handelsüblichen Partykeller oder dem eigenen Gewächshaus, in dem Gemüse und anderes zur Selbstversorgung angebaut wurde; in den eigenen vier Wänden also, wo nicht selten konsumiert wurde, was das Zeug hielt.
„Bin gut da, im Kaff. Ich küsse Dich“, tippte er bei seiner Ankunft ins Telefon und trat aus dem Bahnhofsgebäude.
Auf dem Vorplatz standen zwei Taxis und warteten auf die Gäste, denen der Fußweg zur Wallfahrtskirche zu weit war, die aber die Fastenzeit im hochgelegenen Restaurant mit Panoramablick bei einem guten Räucherfisch ausklingen lassen wollten. Er setzte seine Tasche auf der Bank neben dem Zigarettenautomaten ab. Während er seinen Ausweis hineinsteckte und sich eine Schachtel zog, fiel sein Blick auf ein Graffiti an der Fassade, das, mit den krummen Buchstaben der Adoleszenz, neben einer Werbetafel, auf der die Ärzte, Kosmetikerinnen und Fußpflegerinnen des Dorfes ihre Dienste anzeigten, an die Wand geschmiert, einen Hauch urbaner Sehnsucht hinterließ: „I wish I was cold and dead.“
26.1.2021
Gestern erschienen!
Wer kennt sie nicht, die Frage, die, irgendwann vielleicht aufkommt: Bist du ein Kind der Liebe? Wie haben es deine Eltern miteinander getrieben, stürmisch, leidenschaftlich? War es romantisch, warst du geplant oder wollte es der Zufall, dass du jetzt da bist? Kaum jemand kennt die Geschichte seiner Zeugung. Diese Geschichten sind nicht zu verifizieren, sie sind so subjektiv, ja, einzigartig und geheimnisvoll, wie es die Natur scheinbar vorgesehen hat.
Wie unbedeutend doch früher diese Geschichten gewesen sein mochten als Frauen, während ihrer fruchtbaren Jahre von einer Schwangerschaft in die nächste gedrängt wurden, in jenen Zeiten also, wo sich womöglich die Zeugungsakte so sehr glichen, sodass der eine vom anderen nicht zu unterscheiden gewesen war. Wo die Geburt eines Kindes nicht selten der finanziellen Absicherung im Alter galt. Wo man als Frau geächtet wurde, wenn man nicht gebären konnte, obwohl die Misere vielleicht an der Zeugungsunfähigkeit des Mannes lag. Oder Frau ein ungewolltes Kind zur Welt bringen musste. Wo das Kirchliche noch an jedem Esstisch mitmischte. Und später in den Sechzigern dann: die Antibabypille.
»Und sag, Schwesterherz, was hättet ihr Frauen getan, wenn sich die Pille nicht durchgesetzt hätte?«
Ich sehe Andreas tief in die Augen. Trotz seines engmaschigen Zeitmanagements schaffen wir es dienstags immer noch zum gemeinsamen Mittagessen in die Stadt. Vor einer Minute teilte er mir mit, dass er, wie es aussieht, auf seine alten Tage, schließlich zähle er ja schon zu den Ü50igern, doch noch Vater werden würde. Es habe geklappt, in Spanien. Eine Eizellenspende.
»Die Pille ist doch was ganz anderes«, sage ich, weil er die Fortschritte der Reproduktionsmedizin mit der Einführung der Antibabypille vergleicht. »Christine wird nächstes Jahr achtundvierzig.«
»Ach was? Aber sie fühlt sich fit, ja, fitter als mit fünf-unddreißig. Sie raucht nicht mehr, trinkt kaum was und trainiert im Studio, Spinning und Pilates. Ihre Blutwerte sind top.«
»Und ihr Job? Ohne den kann sie doch gar nicht. Niemals wird sie ihre Position aufgeben.«
»Doch. Da täuschst du dich. Chefredakteurin ist nicht mehr das, was es einmal war. Sie hat die Schnauze voll, der Druck, die sinkenden Verkaufszahlen, die jungen Mitarbeiter, die alles besser wissen. Und seien wir mal ehrlich, spätestens als der Verlag die Onlineredaktion aufgebaut hat, hätte sie gehen müssen. Sie will es sich nicht eingestehen, aber sie ist dann doch, letztlich, ja, vom alten Schlag.«
Noch bevor ich weitere Fragen stellen kann, winkt Andreas dem Kellner.
»Übrigens, wir sind in der vierzehnten Woche«, sagt er, übers ganze Gesicht strahlend, während er zahlt. Selbstverständlich geht er davon aus, dass ich Patentante werde, denn schließlich ist er der Patenonkel meines Sohnes.
Womöglich bin ich auch vom alten Schlag. Warum nur musste es ein fremdes Ei sein? Hätten sie nicht ein Kind zur Pflege nehmen können? Oder eine Adoption?
»Keine Chance«, hatte Andreas gesagt, »wir sind zu alt für die Adoption eines Neugeborenen und Christine konnte sich nur ein Baby vorstellen.«
(Textprobe aus: Claudia Klischat: "Think Tank - Familienleben grenzenlos",in: "Kinderkriegen - Reproduktion reloaded", Hg.: Barbara Peveling/Nikola Richter, Nautilus Flugschrift, Hamburg 2021)
18.1.2021
Aus der Kategorie Abgeschlossene Arbeit:
ES WAR, WIE DIE Wettervorhersage gemeldet hatte, der letzte warme Tag des Jahres. Einige Hausbewohner hatten die Gelegenheit genutzt und die Gartengeräte aus dem Keller geholt. Es war noch zu früh, die Pflanzen winterfest zu machen, aber die Spuren des Sommers wollten beseitigt, vermüllte Ecken in Ordnung gebracht, zu kompakten Schichten getretenes Laub angehoben und entfernt werden. Der Rasen oder das, was von ihm übrig war, wurde mit einem Rechen geharkt, da und dort ein Fixerbesteck, leere Flaschen oder andere Überreste von Substanzgebrauch weggeräumt. D. schichtete zitronenfarbene Mauerziegel, die jemand bei einem Baujob geschenkt und umsonst ins Hausgeliefert bekommen hatte, aus einem Anhänger neben dem Terrassenvorsprung auf. Ich reichte an, während ich das Gesicht in die Sonne streckte, die bald hinter dem Dach der Turnhalle der benachbarten Grundschule verschwinden würde.
Der Garten, ein überschaubares Areal mit ein paar Bäumen und einem Hochbeet, wurde auf der einen Seite durch ein mehr oder weniger inoffizielles Gartentor, auf der anderen Seite durch das Haus selbst und einen dahinterliegenden, regulären Eingang zum Grundstück begrenzt. Verließ man den Garten durch den unauffälligen Durchgang, ein verrostetes Tor, gelangte man durch eine schmale asphaltierte Häusergasse zur Hauptstraße des Viertels. Diese Möglichkeit wurde sowohl von den Hausbewohnern als auch von der Nachbarschaft genutzt, die etwa bei uns einbogen, um sich das Stück Weg um die nächste Straßenecke zu sparen. Mit seinen sieben hohen Pappeln, einer Bank zum Verweilen und der schmucken Fassade des denkmalgeschützten Hauses, griff man auf die Abkürzung durch den Garten zurück, zog er tagsüber auch Hundebesitzer und einige Arbeitnehmer aus der Nähe an, die zur U-Bahn eilten, war aber auch Ort für nächtliche Umschlaggeschäfte verschiedener Art oder bot Platz für Liebespaare und diskreten Drogenkonsum. Es gab den im Plenum mehr oder weniger ausgesprochenen Deal, diese Gewohnheiten, verliefen sie in erträglichem Rahmen, laufen zu lassen.
D., die sich gerade eine Pause vom Ziegelschichten genommen und sich zu mir gesetzt hatte, erinnerte sich lachend an die Episode, als sie ausnahmsweise einmal habe »durchgreifen« müssen, wie sie sagte, um eine Schar kiffender Jugendlicher zu verscheuchen, die sich, lautstark und »Dope übelster Sorte« rauchend, stundenlang auf der Terrasse breitgemacht hatten.
»Ja, du hast dich wie ein veritabler Wachhund aufgeführt«, erinnerte ich mich, »und weißt du noch, wie die Schulkinder einmal am Zaun gestanden und uns gefragt haben, ob es bei uns spuken würde?«
(Textprobe aus: Donata Rigg, DIE FACETTE, Roman, Textem Verlag, Hamburg 2020)
7.1.2021
Verlängerter Lockdown, coronamüde. Zwischen München und Berlin bewegen wir uns in unterschiedlichen öffentlichen und privaten Räumen mit verschiedenen Regelwerken.
Im Jahr 2020 hat unsere Unternehmung gestartet. Wir haben Texte von Kunden*innen und Kollegen*innen begleitet, konzeptionell, dramaturgisch, stilistisch und haben uns in einem Selfpublisherprojekt geübt. An dieser Stelle herzlichen Dank an Peter Löffelholz.
Wir haben, wollten und mussten auch selbst viel lernen, vor allem, wie Kommunikation mit visuellen Gestaltern*innen funktioniert: Vielen Dank an ahaok, vielen Dank an Nina Reisinger! Die Ergebnisse machen uns viel Freude.
Wir haben auch selbst geschrieben und veröffentlicht: Im November 2020 ist der neue Roman "Die Facette" von Donata Rigg erschienen. Ein besonderer, großer Dank an den Textem Verlag!
Zudem erscheint Ende Januar 2021 eine Anthologie, darin ein Beitrag von Claudia Klischat, im Nautilus Verlag: "Kinderkriegen Reproduktion Reloaded" (Hg.: Barbara Peveling/Nikola Richter). Toll!
Nicht zuletzt schreiben wir zusammen an einem dicken Wälzer, eine Arbeit, während derer sich Phasen der Recherche, Figurenentwicklung, des Plottens, des Immer-wieder-Anlaufnehmens und des Abgleichens innerhalb eines Autorinnenduos abwechseln - Entwicklungsstadien, die auch unsere Kunden*innen zu genüge kennen.
Wir werden Euch im Lauf des Jahres hier immer wieder einen Einblick in diesen Prozess geben, eine Reise zwischen Berlin und München, die wir versuchen werden fortzusetzen.
werspricht - Text & Profil: von Autoren*innen für Autoren*innen!